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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft wegen vermeidbarer Verfahrensverzögerung

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Untersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführer gehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete
und zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass die Schuld des Beschwerdeführers
besonders schwer wiege.

Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein, die er im März 2002 begründete. Die Bundesanwaltschaft nahm hierzu am 30. September 2002 Stellung. Der Bundesgerichtshof bestimmte Termin zur Hauptverhandlung über die Revision auf den 10. Juli 2003. Mit Urteil vom
24. Juli 2003 hob er das Urteil des Landgerichts wegen eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück. Die neue Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnen und dauert an.

Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor Landgericht und Oberlandesgericht ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg und führte zur Aufhebung dieser Entscheidungen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) gebietet in Haftsachen eine angemessene Beschleunigung des gesamten Strafverfahrens bis zu dessen rechtskräftigen Abschluss.

Das Oberlandesgericht hat nicht berücksichtigt, dass Umstände vorliegen, die den Schluss auf eine erhebliche, dem Staat zuzurechnende vermeidbare Verfahrensverzögerung nahe legen. Durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die Zurückverweisung der Sache liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfahrensverzögerung schon deshalb vor, weil das ergangene Urteil verfahrensfehlerhaft war (vgl. hierzu bereits Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05). Das Bundesverfassungsgericht hat zwar festgestellt, dass es grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit nicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervon ist aber dann eine Ausnahme geboten, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat. Dies ist hier der Fall.

Außerdem hat das Oberlandesgericht im Rahmen der Haftprüfung nur den Zeitraum seit Aufhebung des ersten Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht und nicht das gesamte Strafverfahren in den Blick genommen. Das Beschleunigungsgebot erfasst jedoch das gesamte Strafverfahren (vgl. zuletzt Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05). Darlegungs- und rechtfertigungsbedürftig ist deshalb schon der Umstand, dass die erste Hauptverhandlung erst im Juli 1999, also nahezu zwei Jahre nach dem Beginn der Untersuchungshaft begonnen hat, und darüber hinaus bis zur ersten Verurteilung im August 2001 nochmals zwei weitere
Jahre und 120 Hauptverhandlungstage verstrichen sind. Ferner, dass die Fertigung der Stellungnahme des Generalbundesanwalts – trotz einer Verfahrensdauer von damals bereits vier Jahren und sieben Monaten – weitere sechs Monate in Anspruch genommen hat, die Hauptverhandlung über die Revision durch den Bundesgerichtshof erst nach Ablauf eines weiteren Zeitraums von neun Monaten terminiert wurde und schließlich nach Aufhebung des Urteils des Landgerichts im Juli 2003 die neue Hauptverhandlung erst im Februar 2004 und damit weitere sieben Monate später begonnen hat. Diese Umstände sind schon jeder für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit geeignet, den Schluss auf eine vermeidbare, durch ein Verschulden der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte verursachte Verfahrensverzögerung zu tragen. Es kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nach acht Jahren Untersuchungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht.

Darüber hinaus hat das Oberlandesgericht auch maßgebliche Abwägungsgrundsätze nicht beachtet. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verstärkt sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Haft. Der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilen Beschuldigten ist den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als korrektiv entgegenzuhalten. Allein die stereotypen, in den Haftfortdauerentscheidungen hier enthaltenen und auch sonst häufig anzutreffenden Formulierungen, das überragende Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer wirksamen Strafverfolgung einer durch die besondere Schwere des Schuldvorwurfs gekennzeichneten Tat überwiege den durch die Verfassung garantierten Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschwerdeführers, kann
nach einem Zeitraum von über acht Jahren die Fortdauer von Untersuchungshaft nicht mehr rechtfertigen.

Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05 –

Quelle/Autor: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts  

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